Sie scheinen eine veraltete Version der Internet Explorers zu verwenden, die von dieser Webseite nicht unterstützt wird. Bitte nutzen Sie einen Browser wie zum Beispiel Microsoft Edge, Chrome, Firefox oder Safari in einer aktuellen Version.

MS & ich: Herr Dr. Kausch, was ist Ihre zentrale Botschaft an Ihre Patient*innen hinsichtlich der Erwartungen an eine Therapie?
Dr. Ulrich Kausch: Grundsätzlich muss man sagen, dass es derzeit leider keine heilende MS-Therapie gibt. Es gibt nur Therapien, die die Krankheitsprogression beziehungsweise die Schubhäufigkeit aufhalten können. Aber: Wir haben einen großen bunten Blumenstrauß an verschiedenen MS-Therapien, um die Krankheit positiv zu beeinflussen. Dazu muss man grundsätzlich sagen, dass Therapien nur bei denen wirken, die bei der Therapie bleiben und sie durchhalten und die mit ihrem Arzt sprechen, ob es noch die richtige Therapie zum richtigen Zeitpunkt ist.

Welche Erwartungshaltung können MS-Betroffene an ihre erste Therapie haben?
Mit zunehmender Breite der Therapie sind die Wünsche gestiegen. Das heißt, wir wünschen uns natürlich, dass eine Therapie in allen Krankheitsgraden, sei es Schubhäufigkeit, Progression, Kernspinveränderungen, einen stabilen Befund ergibt. Wenn die Ergebnisse nicht stabil sind, muss man den Patienten auch mitnehmen und ihm sagen, wenn eine Therapie noch nicht so wirkt und es Sinn macht, auf eine intensivierte Therapie überzugehen.

Dr. med. Ulrich Kausch
Niedergelassener Neurologe mit Schwerpunkt MS:

„Es gibt einen großen Blumenstrauß an vielen verschiedenen Therapieansätzen und -möglichkeiten. Mit der richtigen Blume schaffen wir es, die Krankheit im Zaum zu halten. Wir gehen mit den Patienten mit.“

MS-Experte Dr. med. Ulrich Kausch im Porträt

Konkret: Welche Erfolge kann ein*e Patient*in erreichen, wenn er*sie sich früh für eine hocheffektive Therapie entscheidet?
Dass die Krankheit stabil bleibt und nichts hinzukommt und dass der Erkrankte möglichst behinderungsfrei durchs Leben gehen kann. Wobei man sich immer bewusst sein muss, dass Studien statistische Werte sind. Es gibt auch Patienten, die mit der Basistherapie über Jahre und Jahrzehnte stabil sind. Hier muss man nicht gleich eine intensivierte Therapie machen. Aber wenn Krankheitsaktivität da ist, macht es Sinn, frühzeitig auf eine intensivierte Therapie überzugehen. Oder wenn bestimmte Risikofaktoren, die einen eher schwereren Krankheitsverlauf erwarten lassen, vorhanden sind, empfiehlt es sich, frühzeitig eine intensivierte Therapie einzuleiten.

Würden Sie sagen, es ist generell gut, wenn sich jemand möglichst früh für eine hocheff ektive Therapie entscheidet?
Das kommt immer auf das persönliche Leben des Patienten an, wie seine Zukunftsplanung aussieht. Natürlich sollte der Patient mit einer möglichst effektiven Therapie anfangen, mit der er wirklich stabil ist. Aber das hängt auch vom Krankheitsverlauf ab. Ein Beispiel, um das zu veranschaulichen: Ich habe einen 18-jährigen Patienten, der seit dem 12. Lebensjahr MS hat und auch schon drei schwere Schübe, auf einem Auge sieht er kaum noch etwas – aber er hat noch nie eine Therapie begonnen. Er selbst hat Angst vor Nebenwirkungen und er hat eine ängstliche Mutter. Dieser Patient kam vor ein paar Wochen erstmalig zu mir. Natürlich rate ich ihm nicht zu einer Basistherapie – er bekommt von mir eine depletierende Therapie, wenn er sich dazu durchringen kann. Das heißt, man kann einem Patienten eine Empfehlung geben, aber ihn zu nichts zwingen. Letztlich ist es seine Entscheidung. Der Patient muss mit den Konsequenzen leben, und das muss ihm klar kommuniziert werden.

Nebenwirkungen einer Therapie haben Sie eben angesprochen. Diese können in Art und Ausprägung sehr unterschiedlich sein. Was sagen Sie Ihren Patient*innen dazu?
Das hängt davon ab, für welche Therapie der Patient sich entscheidet und dementsprechend sind die Nebenwirkungen. Eine allgemeine Aussage ist daher nicht möglich.

Das betrifft ja auch das Ausmaß der Wirksamkeit der ausgewählten Therapie. Die kann im jeweiligen Einzelfall auch nicht vorhergesagt werden.
Das stimmt. Ein wichtiges Argument generell sind Studien zu den Therapien, auch zu den hochwirksamen Therapien. Für den Einzelfall haben sie natürlich eine bedingte Aussagefähigkeit. Ein Beispiel: Wenn wir sagen, dass in der Basistherapie 30, 40 Prozent der Patienten schubfrei und progressionsfrei sind, heißt das für den Einzelfall, es kann stabil bleiben, kann aber auch schlechter werden. Das Gleiche gilt für die depletierenden Therapien, nur mit einer anderen Wahrscheinlichkeit. Das Problem ist allerdings, dass wir verlernt haben mit Wahrscheinlichkeiten im täglichen Leben umzugehen.

Sie denken an die Risiken des täglichen Lebens?
Sehen Sie, es ist ja immer so, dass Patienten Angst vor Nebenwirkungen haben. Diese bekommt nur ein kleiner Teil von ihnen, dennoch stehen sie im Vordergrund. Tatsächlich ist das Risiko für Nebenwirkungen gering. Denken wir an die PML (Anm. der Redaktion: Infektion mit dem JC-Virus), ist das natürlich eine schwere Nebenwirkung. Das Risiko daran zu erkranken ist aber relativ gering. Das Risiko, auf dem Weg zum Arzt einen Verkehrsunfall zu haben, ist wahrscheinlich sehr viel höher. Nur – das macht sich kein Patient so bewusst. Das gilt für alle diese Nebenwirkungsdiskussionen. Deswegen hätte ich gern eine Art Risikogegenüberstellung, damit der Patient mal sieht, wie sich das Risiko des täglichen Überquerens einer Straße zum Risiko einer bestimmten Therapie verhält.

Sie haben es eingangs schon erwähnt: MS-Therapien können den Verlauf günstig beeinflussen, sogar einen Stillstand für längere Zeit ermöglichen. Wie vermitteln Sie Ihren Patient*innen, dass auch das, nicht nur die Heilung einer Krankheit, ein Erfolg ist?
In der Medizin haben wir nur ganz wenige Erkrankungen, die für sich heilen können, wie ein Armbruch oder Ähnliches. Das heißt, wir müssen immer sehen, wie wir mit chronischen Erkrankungen umgehen. Aber ich sage den Patienten gern: Wenn ich mir eine neurologische Erkrankung aussuchen müsste, mit der ich dann leben müsste, würde ich mir die MS aussuchen. Es gibt hier derzeit so viele verschiedene Therapieansätze und -möglichkeiten. Wir haben hier einen ganz großen Blumenstrauß an therapeutischen Optionen. Wir müssen nur die richtige Blume für Sie – den Patienten – finden und dann schaffen wir es, die Krankheit im Zaum zu halten.

Eine sehr positive Aussage und eine schöne Metapher …
… und die akzeptieren die Patienten auch. Natürlich hängt es immer vom Erkrankungsstand ab. Wenn ich zum Beispiel einen jungen Betroffenen habe, muss der erstmal mit der Diagnose „Ich hab eine chronische, unheilbare Krankheit“ umgehen. Am Anfang gibt es auch ein Wachstum in der Erkrankung. Das kann schon depressiv machen – gerade wenn Sie an die Hauptklientel, junge weibliche Patientinnen, denken. Die haben die ganze Lebensplanung vor sich und müssen sich mit der MS erstmal persönlich arrangieren. Das braucht auch Zeit, Therapie ist langfristig. Deshalb geht auch kein Patient von mir sofort mit einer verschriebenen Therapie nach Hause, nach dem Motto: Jetzt machen Sie mal, dann wird das schon. Man muss dem Patienten sagen, dass die Therapie erst nach drei bis sechs Monaten anfängt zu wirken und auch klarstellen, worauf es ankommt: auf Therapietreue und Adhärenz. Deshalb muss er über seine Therapie genau Bescheid wissen und sich wirklich dazu durchringen und sie durchhalten. Dabei spielt auch die MS-Nurse eine ganz große Rolle, die bei uns die Patienten mitbetreut.

Der Teamgedanke ist wichtig, das Zusammenspiel aus Ärzt*in, Behandlungsteam und Patient*in?
Ja, absolut. Wenn ich überlege, ich müsste ohne MS-Nurses auskommen – nein, das geht überhaupt nicht. In einer auf MS-erkrankte Patienten spezialisierten Praxis muss ein Team vorhanden sein, das mit den Patienten umgeht und sie im Team betreut. Wenn das nicht funktioniert, ist es schwierig. Deswegen finde ich es gut, die MS-Nurses mit in die gesamte Betreuung der Patienten mit einzubeziehen und es gibt viele sehr gute Nurses.

Wie wichtig sind individuelle Ziele, die sich Patient*innen selbst setzen? Sind sie der Schlüssel für die richtige Erwartungshaltung bei einer MS-Therapie?
Es macht wirklich Sinn, dass der Patient sich Ziele setzt. Die hängen natürlich immer ganz vom Lebensalter und von den persönlichen Umständen ab, aber es macht auf alle Fälle Sinn. Wobei – wenn Sie einen jungen Patienten fragen: „Was für Ziele haben Sie für Ihr Leben, was wollen Sie erreichen?“, dann ist das nicht so prickelnd geschickt, wenn der sich erstmal mit der Situation insgesamt auseinandersetzen muss, eine chronische Erkrankung zu haben. Wenn diese Ziele eher kurzfristig sind, etwa ein kommender Kinderwunsch, persönliche Lebensumstände, dann können sie therapiemitentscheidend sein und im Vordergrund stehen: Wann kann ich die Therapie durchführen? Welche Art von Risiko bin ich bereit zu tragen?

Die individuellen Lebensvorstellungen und die Risikobereitschaft beeinflussen auch Ihre Therapieentscheidung?
Ja, sicher. Ich habe zum Beispiel Patienten, die für ein großes Unternehmen häufig im Ausland sind und viel in der Welt umherreisen. Für sie wird eine Therapie, bei der sie einmal im halben Jahr eine Infusion bekommen, angenehmer sein, als irgendwelche Spritzen irgendwohin mitzunehmen, in den Flieger, schwierig mit der Kühlkette ... Und so hängt die Therapieentscheidung stark von den individuellen Lebensumständen des Patienten ab.

Sie haben eingangs schon die Wichtigkeit der Therapietreue betont. Ist sie vielleicht der entscheidende Faktor für den Therapieerfolg?
Grundsätzlich wirken Therapien nur bei denen, die sie auch nehmen – logischerweise. Das heißt: Therapietreue ist essenziell, und ich glaube, wir müssen alles tun, damit der Patient seine Therapie macht. Das ist das A und O der Therapie. Deswegen ist ein guter Kontakt zum Patienten wichtig: dass man ihn regelmäßig sieht, einbestellt, Kontrollen macht, schaut, ob es mit den Rezepten passt. Und natürlich ist alles gut, was die Therapietreue stärkt. Deswegen macht es auch Sinn, dass bei uns in der Praxis die MS-Nurse immer ein Auge auf die Therapien hat und für den Patienten ansprechbar ist, wenn es Probleme gibt. Wir fahren hier lieber zweigleisig.

Eine Frage, die viele Patient*innen beschäftigt: Wann sollte eine Therapie beendet werden?
Das ist wirklich ein Problem: Wann beende ich und wann sage ich, es ist sekundär chronisch progredient und nicht mehr schubförmig, mit einem Defizit und Wechsel von einer Therapie? Das ist vor allem mit zunehmender Therapiedauer ein echtes Problem: Wann mache ich was? Das ist für den Arzt zum Teil wirklich schwierig und auch für die Patienten. Die sind manchmal jahrelang auf einer Therapie, spritzen sich 15, 20 Jahre lang – und sind stabil.

… und stellen sich irgendwann die Frage, ob sie denn die Therapie überhaupt noch brauchen.
Genau. Das sind dann sehr schwierige Entscheidungen im Verlauf. Das wird natürlich auch auf depletierende Therapien zukommen – wenn der Patient stabil ist, sagt er vielleicht, „Es reicht auch, wenn ich mir die Antikörper nur alle zwei Monate spritze“. Schwierig, wirklich schwierig.

Wann wäre denn aus Ihrer Sicht der Zeitpunkt, eine Therapie zu beenden? Gibt es den überhaupt?
Das ist genau das Problem. Man muss immer abwägen: Wo ist das mögliche Risiko, das ich immer in einer Therapie habe und wo ist der Nutzen für den Patienten? Das sind ganz individuelle Entscheidungen. Aber ich muss ehrlich sagen, ich bin jemand, der eine Therapie eher länger als kürzer macht. Es gibt dazu einfach noch keine wirklich guten Modelle oder Studien.

Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht nichtmedikamentöse Therapien bei der MS?
Ich sehe sie neben der medikamentösen Therapie als wichtiges zweites Standbein. Etwa Physio- und Ergotherapie, aber auch alle Dinge, die der Patient selbst machen kann: Auf seine eigenen Kräfte achten, sich gesund ernähren, Vitamin D und solche Sachen sind wichtig. Das gehört mit zur Therapie und sollte mit dem Patienten auch besprochen werden. Dass der Patient versucht, möglichst positiv mit seiner Erkrankung umzugehen, soweit es geht, und auch versucht, seinen Lebensstil entsprechend anzupassen, zum Beispiel Ruhephasen und Bewegung – all das ist essenziell und ein wesentlicher Therapiebaustein.

Herr Dr. Kausch, Sie betreuen seit vielen Jahren MS-Patient*innen und wir erleben Sie hier im Interview sachlich-ehrlich und emotional-mutmachend. Gibt es etwas, was Sie MS-Betroffenen zum Abschluss unseres Gesprächs mitgeben möchten?
Kein Patient ist allein mit seiner Erkrankung. Meine Patienten bekommen von mir immer eine ehrliche Antwort und – das ist, glaube ich, ganz wichtig für sie – ich gehe jeden Weg mit ihnen mit. Egal, für welchen Weg sie oder er sich entscheidet. Damit meine ich auch, der Patient soll nicht das Gefühl haben: „Ich hab mich nicht zur Therapie durchringen können und jetzt mag der Arzt mich nicht mehr“. Ich gehe jeden Weg mit ihm mit. Letztendlich muss er die Konsequenzen tragen, aber von mir bekommt er immer eine ehrliche Antwort, was ich wie und warum empfehlen würde.

Ihren ärztlichen Rat und Ihre Betreuung bekommen Patient*innen auch, wenn sie sich für ihren individuellen Weg und für eine andere Therapie entscheiden?
Ja, sicher, ob für eine andere oder gar keine Therapie – letztendlich ist es sein Leben und seine Entscheidung, und die trage ich mit ihm mit.

Herr Dr. Kausch wir danken Ihnen sehr herzlich für das offene und ehrliche Gespräch.