Sind Kinderwunsch und Multiple Sklerose ein Balanceakt für werdende Mütter und ihre Kinder?
Prof. Dr. med. Kerstin Hellwig beantwortet die wichtigsten Fragen – was
im Vorfeld einer Schwangerschaft geklärt werden sollte und unter einer MS-Therapie zu beachten ist,
welche Auswirkungen die Schwangerschaft auf die MS haben kann und
warum Stillen auch für Mütter mit MS und ihre Kinder wichtig ist.
Prof. Dr. med. Kerstin Hellwig
ist Professorin für Neurologie und leitet das deutschsprachige Multiple Sklerose und Kinderwunsch Register (DMSKW). Sie ist außerdem niedergelassene Neurologin in der neurologischen Gemeinschaftspraxis Castrop-Rauxel.
Prof. Dr. Hellwig ist eine anerkannte Spezialistin für das Thema Schwangerschaft und MS und Initiatorin des DMSKW. Das DMSKW-Register ist eine einzigartige Datenbasis zum großen Themenkomplex „Umgang mit Immuntherapien in der Schwangerschaftsplanung“ und archiviert Daten von Menschen mit MS zum Verlauf der Erkrankung, in der Zeit der Schwangerschaft und darüber hinaus sowie zur Entwicklung ihrer Kinder.
MS & ich: Frau Professor Hellwig, viele Frauen mit MS wünschen sich ein Kind. Zwei zentrale Fragen beschäftigen sie dabei, bevor sie überhaupt schwanger werden: Ist die Multiple Sklerose vererbbar und hat die Erkrankung einen Einfluss auf die Fruchtbarkeit?
Prof. Dr. Kerstin Hellwig: Die MS ist keine klassische Erbkrankheit. Ausgelöst wird sie durch genetische Faktoren und Umweltfaktoren. Auch Infektionen haben einen Einfluss – aktuell wird in diesem Zusammenhang auch das Epstein-Barr-Virus diskutiert. An MS erkrankt sind in Deutschland 0,1–0,2 Prozent der Allgemeinbevölkerung. Wenn wir einen Bezug zwischen Krankheitsrisiko und Verwandtschaftsgrad herstellen, so kann man sagen, das Risiko an MS zu erkranken, ist abhängig vom Verwandtschaftsgrad zu einem*einer MS-Erkrankten. Das heißt: Eineiige Zwillinge haben ein deutlich höheres Risiko als Kinder mit einem an MS erkrankten Elternteil oder entfernten Verwandten. Insgesamt ist das Risiko für Kinder eines MS-erkrankten Elternteils, auch eine MS zu bekommen, im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung geringfügig erhöht und liegt bei ca. 2 Prozent.
Zu Ihrer zweiten Frage: MS reduziert die Fruchtbarkeit wahrscheinlich nicht. Allerdings ist es so, dass der Kinderwunsch ja nicht immer so einfach erfüllt wird. Das betrifft nicht nur Menschen mit MS, auch die Gesamtbevölkerung.
Was sollten Frauen mit MS und Kinderwunsch beachten, Stichwort Umgang mit Immuntherapien während der Schwangerschaft?
Man muss dazu sagen, noch vor 30–40 Jahren hieß es, Frauen mit MS dürfen gar nicht schwanger werden. Dann kamen vor zehn, fünfzehn Jahren MS-Therapien, die Frauen neue Perspektiven geöffnet haben. Frauen unter MS-Therapie wurde aber empfohlen, die Medikamente einige Monate vor einer geplanten Schwangerschaft abzusetzen, da es keine Daten gab. Die meisten verlaufsmodifizierenden Therapien sind derzeit in der Schwangerschaft (und auch Stillzeit) nicht zugelassen. Möchten Betroffene sich ihren Kinderwunsch erfüllen, empfehlen die Beipackzettel meistens, die Therapie auszusetzen – nicht selten bereits Monate vor der geplanten Schwangerschaft. Bei Absetzen der Therapie besteht aber die Gefahr, dass die MS weiter fortschreitet. Idealerweise sollten Frauen mit MS und Kinderwunsch möglichst vor einer Schwangerschaft mit ihrem*ihrer Neurolog*in gemeinsam das geeignete Vorgehen besprechen.
Was bedeutet das konkret für MS-Betroffene mit Kinderwunsch?
Mehrere Forscherteams haben herausgefunden, dass die Gabe von einigen verlaufsmodifizierenden MS-Therapien vor oder zu Beginn der Schwangerschaft offenbar keinen Einfluss auf die Gesundheit des Kindes oder die Geburt hat. Dies gilt allerdings nicht für alle Therapien. Wenn die MS-Therapien zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft gegeben wurden, gibt es nur für sehr wenige Medikamente Daten. Dies bedeutet, dass eine Schwangerschaft individuell geplant werden muss, in enger Absprache mit den behandelnden Fachärzt*innen. Es muss im Einzelfall entschieden werden, ob ein Medikament vor dem Eintritt der Schwangerschaft abgesetzt wird, bis zum Eintritt der Schwangerschaft beibehalten wird oder sogar in der Schwangerschaft weitergeführt wird. Ähnliches gilt für die Stillzeit.
Mein großes Anliegen ist die Planung von Schwangerschaft und Stillzeit mit MS – wenn medizinisch nötig, auch unter Therapien, gerade bei aktiven Verläufen. Die braucht es nicht in allen Fällen, aber manchmal. Ich würde diese Option nicht ausschließen.
Kann eine Schwangerschaft oder das Absetzen der MS-Therapie den Krankheitsverlauf verschlechtern? Besteht ein höheres Schubrisiko – sowohl während als auch nach der Schwangerschaft?
Viele Studien zeigen, dass das Schubrisiko in der Schwangerschaft abnimmt. Im letzten Schwangerschaftsdrittel geht es sogar deutlich nach unten. Nach der Geburt steigt das Schubrisiko wieder. Studien zeigen auch, beim Absetzen einer hochwirksamen Therapie ist das Schubrisiko höher als ohne Therapie.
Was passiert, wenn eine Schwangere mit MS während oder kurz nach der Geburt des Kindes einen schweren Schub bekommt? Welche Konsequenzen kann das für sie und ihr Baby haben?
Am besten ist es, die Frauen so einzustellen, also eine Therapie auszuwählen, deren Absetzen gar nicht zu einem Schub führt oder bei der das Schubrisiko sehr klein ist. Falls doch ein Schub auftritt, gibt es Therapiemöglichkeiten. Idealerweise entscheidet der*die Ärzt*in gemeinsam mit der Patientin, wie vorgegangen wird. Schübe sind aber eher selten in der Schwangerschaft, ich hatte es vorher schon erwähnt, deutlich häufiger bei aktiven Verläufen. Treten leichte Schübe auf, die muss man aber auch nicht behandeln, weder mit noch ohne Schwangerschaft. Kommt es doch zu schwereren Schüben, können diese mit Cortison behandelt werden. In ganz schweren Fällen kann eine Plasmapherese durchgeführt werden.
Haben Frauen mit MS ein höheres Risiko für eine Risikoschwangerschaft?
Nein. Schwangerschaftsverlauf und -ausgang sind ähnlich wie bei Schwangeren ohne MS. Es gibt auch keine Häufung von Geburtskomplikationen. Es gibt allerdings eine Tendenz zu mehr operativen/assistierten Geburten, vor allem wenn die Frauen einen höheren Behinderungsgrad haben.
Frau Professor Hellwig, Sie haben operative/assistierte Geburten angesprochen. Sollte ein bestimmter Geburtsmodus gewählt werden, beziehungsweise können Schwangere mit MS eine Anästhesie wie die PDA (Periduralanästhesie) bekommen?
Ein Kaiserschnitt ist mit Spinalanästhesie oder Vollnarkose möglich. Auch eine PDA kann zur Schmerzlinderung während der Geburt gegeben werden.
Beeinflussen ein Kaiserschnitt und/oder eine PDA bei der Entbindung das Schubrisiko nach der Geburt?
Nein, das Schubrisiko ist unabhängig von der Art der Entbindung und der Anästhesie.
Worauf sollten Schwangere mit MS generell achten?
Wie bei allen Schwangeren sind ein gesunder Lebensstil, eine ausgewogene Ernährung, Bewegung und Ruhepausen wichtig. In Absprache mit dem*der Ärzt*in kann auch die Einnahme von Folsäure und Vitamin D empfehlenswert sein. Natürlich sollte generell auf Alkohol und Nikotin verzichtet werden.
Viele Mütter wollen ihr Baby nach der Geburt stillen. Was ist dabei unter einer MS-Therapie zu beachten?
Wir kommen zunehmend zu der Erkenntnis, dass auch unter einer Therapie gestillt werden kann. Stillen ist die beste Ernährung für den Säugling. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) sowie die Nationale Stillkommission empfehlen gesunden Müttern, vier bis sechs Monate ausschließlich zu stillen: Es fördert die Mutter-Kind-Bindung, stärkt das Immunsystem des Kindes und wirkt bei ihnen entzündungshemmend. Zudem hat das Stillen auch Vorteile für die Mutter, denn es reduziert das Risiko für Brustkrebs und Ovarialkarzinom. Frauen mit einer leichten bis moderaten MS Krankheitsaktivität können in der Regel auch ohne MS-Medikamente stillen. Verschiedene Daten zeigen außerdem, dass das Schubrisiko durchs Stillen moderat gesenkt werden kann.
Es gibt MS-Medikamente, die während der Stillzeit angewendet werden können. Falls aus klinischer Sicht erforderlich, kann die Therapie bei monoklonalen Antikörpern nach dem Wechsel von Vormilch (Kolostrum) zu Muttermilch gestartet werden. Mütter, die während der Schwangerschaft unter Therapie waren, sollten ein paar Tage warten, bis sie mit dem Stillen beginnen. Am besten, nachdem die Bildung des Kolostrums abgeschlossen ist, ca. zwei bis drei Tage nach der Geburt.
Was passiert, wenn es während der Stillphase zu einem Schub kommt?
Auch beim Stillen ist die Gabe von Cortison möglich, die Mutter sollte dann aber minimal vier Stunden warten, bevor sie weiter stillt.
Sie haben es eingangs schon erwähnt, der Kinderwunsch bleibt auch manchmal unerfüllt – bei Paaren mit und ohne MS. Ist eine Kinderwunschbehandlung beziehungsweise eine reproduktionsmedizinische Behandlung auch für Paare mit MS eine Alternative und wenn ja, hat die an MS erkrankte Frau dann ein höheres Schubrisiko?
Auch Paare, bei denen einer oder beide an MS erkrankt sind, können eine reproduktionsmedizinische Behandlung in Betracht ziehen. Ist die Frau an MS erkrankt, hat sie nach einer Kinderwunschbehandlung kein höheres Schubrisiko. Neuere Forschungen zeigen hier, dass das Schubrisiko nach einer reproduktionsmedizinischen Behandlung, also einer künstlichen Befruchtung, dadurch nicht ansteigt. Entscheidend dafür ist – das zeigen aktuelle Studien – dass Schwangere mit MS weniger Schübe haben, wenn sie in einer effektiven Therapie sind.
Frau Professor Hellwig, Sie betreuen schwangere Frauen mit MS im gesamten Bundesgebiet und sind federführend im deutschsprachigen Multiple Sklerose und Kinderwunsch Register tätig. Haben Sie zum Abschluss unseres Gesprächs eine ermutigende Botschaft für Frauen mit MS und Kinderwunsch?
MS und Kinderwunsch sind sehr gut vereinbar. Sprechen Sie sich gut mit ihren behandelnden Ärzt*innen ab, informieren Sie sich, wenn es geht, im Voraus und bauen Sie sich ein Netzwerk auf, welches Sie unterstützt, wenn das Kind geboren ist. Regelmäßige Webinare werden über das Projekt „Plan Baby bei MS“ über die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen organisiert. In 2023 werden noch zwei Termine angeboten.
Frau Professor Hellwig, wir danken Ihnen sehr für das Gespräch.
Weiterführende Links
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„Plan Baby bei MS“ – Projekt der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft e.V.
Plan Baby bei MS | (dmsg.de)
Deutschsprachiges Multiple Sklerose und Kinderwunsch Register (DMSKW)
MS und Kinderwunsch (ms-und-kinderwunsch.de)
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