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Marie* ist Mitte 30, verheiratet, Mutter von drei Kindern und lebt mit MS. Wir haben mit ihr und ihrem Mann darüber geredet, ob die MS das Familienleben beeinflusst und wie aus einer Angst ein Energiespender wurde.

MS und ich: Eine Familie wandert duch eine Hügellandschaft

Wie erklärt man den Kindern, Mama ist krank und hat MS?

„Mama, denk dran, du musst den Hubert noch anziehen.“

Sie: Hubert ist meine Orthese, die ich während meiner ersten Reha bekommen habe, und der haben wir einen Namen gegeben. Für den Jüngsten ist das ganz spannend, da spielen Neugierde und Humor eine gewisse Rolle. Wir haben versucht zu erklären, dass sich der Körper bei MS selbst angreift. Wie soll man das sonst erklären? Zum Zeitpunkt der Diagnose waren die Kinder einfach viel zu jung, um es zu verstehen.

Meine Kinder sind mittlerweile sehr cool. Wenn ich mit einer Kanüle nach Hause komme und einen Tropf habe, dann stöpselt unser Sohn den Tropf ab. Ich glaube, wenn man sie nicht daran teilhaben lassen würde, wäre es wahrscheinlich auch nicht der richtige Weg. Es gehört einfach dazu und hilft, bestimmte Situationen besser zu verstehen. Sie machen das schon sehr gelassen und müssen nicht alles im Detail wissen. Ich weiß ja selbst nicht, was kommt, da muss ich keinen Teufel an die Wand malen.

„Im Alltag vergessen sie die MS.“

Er: Mit drei Kindern geht es immer ein bisschen hektisch zu und der Geräuschpegel ist nicht optimal, weil das auch eine Art Stresssituation ist. Sie bekommen natürlich mit, dass Mama öfter Pausen braucht, aber wenn Sie meine Frau jetzt so sehen, sehen Sie nicht, was sie hat. Das sieht man ihr ja nicht an. Im Alltag vergisst man das und so ist das bei den Kindern auch, sie vergessen das.

MS und ich: Eine Katze schläft auf dem Sofa

Sie: Grundsätzlich wissen sie, dass ich krank bin, es ist aber nicht täglich präsent. Mittlerweile akzeptieren unsere Kinder, dass ich Pausen brauche. Dann liegt unser jüngster Sohn neben mir, hört eine Geschichte und ich ruhe mich mit ihm auf dem Sofa aus. Und wenn es mir schlecht geht, versuchen die Kinder extra lieb zu sein.

Wie verändert sich der Alltag mit MS?

Er: MS kommt ja nicht allein, das kauft man oft im Doppelpack mit anderen Autoimmunkrankheiten und die verändern den Alltag natürlich.

Sie: Vor anderthalb Jahren habe ich die Diagnose Morbus Crohn [Anm. d. Red.: eine chronische Entzündung des Darms, die meist schubweise verläuft] bekommen. Ernährung spielt für die MS eine wichtige Rolle, deswegen versuche ich, das sehr gezielt zu steuern und mich entzündungshemmend zu ernähren. Tatsächlich ist der Crohn aber derjenige, der unser Leben in diesem Bereich bestimmt, und gar nicht so die MS.

Es sind auch viele Kleinigkeiten. Auf einmal lässt man immer wieder den Stift fallen. Plötzlich komme ich die 30 Treppenstufen in unserem Haus nicht mehr richtig hoch. Dieses kleine und gemeine Voranschleichen der MS, das ist für mich viel, viel schlimmer als die Schübe.

Was auch so ein Ding ist, ist Hilfe annehmen und um Hilfe bitten. Kannst du die Marmelade aufmachen, kannst du mir das Brot schneiden, weil ich das Messer nicht festhalten kann. Ich konnte das früher, also kann ich das jetzt doch auch. Sich selbst einzugestehen: Okay, du hast ein Problem, das ist schwierig.

„Ich habe mein Leben ziemlich umgebaut.“

Ich hatte es schon wieder verdrängt, aber ja, ich habe mein gesamtes Berufsleben verändert. Ich habe sehr gern, sehr viel gearbeitet, war selbstständig und habe das tatsächlich aufgegeben und mein Leben meiner Krankheit angepasst. Auch wenn ich einsehe, dass das sein muss, fällt es mir schwer. Das muss man sich erst eingestehen. Ich habe viel gekämpft, inklusive vieler Tränen. Im Grunde habe ich über drei Jahre lang etappenweise Abschied genommen. Ich hatte ein süßes Dienstfahrzeug, so wie ich es immer haben wollte. Dann wurde es verkauft und man hat angefangen, die Werbung von dem Auto zu entfernen.

Er: Das muss man sich mal vorstellen, man sagt jemandem in den 30ern: Bereite dich mal so langsam auf deine Rente vor und tritt kürzer. Das ist an sich ja schon ein Problem und das zu begreifen, ist auch ein Prozess. Dein Job war sehr interessant und aufregend, im positiven Sinne. Er hat dir gefehlt, aber du musstest erkennen und akzeptieren, dass er nicht förderlich ist.

Sie: Ich bekomme auch tatsächlich immer die Retourkutsche. Wenn ich einen langen Tag hatte, weiß ich, es geht mir am nächsten Tag nicht gut. Mein Körper möchte es einfach nicht. Mein größter und emotionalster Schmerz im Zusammenhang mit der MS sind allerdings die Sensibilitätsstörungen auf der Haut. Sie fühlen sich an wie 1000 Nadelstiche. Für meinen Alltag bedeutet das, dass mich meine Kinder oft nicht berühren dürfen. Das ist wirklich besonders schmerzlich und somit mein größter Verlust bei all den Veränderungen durch die MS.

MS und ich: Spruch:... denn meine Aufgabe war es, Mama zu sein

Als Sie die Diagnose erhielten, waren Sie bereits ein Paar. Verarbeitet man das gemeinsam oder war es Einzelarbeit?

Sie: Das war schon Teamwork. Zu dem Zeitpunkt waren wir schon verheiratet und hatten bereits unsere drei Kinder im Alter von anderthalb und sechseinhalb. Wir haben tatsächlich einfach weitergemacht, also ich für meinen Teil, denn meine Aufgabe war es, Mama zu sein.

Er: Man bekommt die Diagnose, weiß aber nicht, was es bedeutet. Natürlich verbindet man MS mit bestimmten Beschwerden wie Bewegungseinschränkungen und einem Leben im Rollstuhl und man weiß von fortlaufenden Stadien. Wir gehen mit der Diagnose aber grundsätzlich relativ positiv um. Darauf reagieren kann man sowieso nicht wirklich, das muss man auf sich zukommen lassen.

„Die Situation an sich ist ja ziemlich unrealistisch.“

Sie: Was du in dem Augenblick fühlst, wenn du so eine Diagnose an den Kopf geknallt bekommst, ist ja ziemlich unrealistisch. Ich bin ein Mensch, ich blende das aus und sage mir, es betrifft mich einfach nicht, mit mir haben die Ärzte gerade nicht gesprochen. Zwischendurch kommen natürlich immer extreme Ängste, das ist ein richtiges Gedankenkarussell, was sich im eigenen Kopf dreht. Ganz am Anfang hatte ich immer die Angst, ich werde bei der Hochzeit meiner Tochter im Rollstuhl sitzen.

Ist diese Angst geblieben?

Sie: Nein, ich habe heute deutlich weniger Angst vor der Krankheit. Das führe ich aber tatsächlich darauf zurück, dass ich mitkriege, wie die Forschung sich entwickelt. Ich hoffe nach wie vor, dass irgendwann doch noch die Lösung gegen MS kommt. Wenn vielleicht auch nicht für mich, so doch für alle, die folgen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass meine Kinder vielleicht auch MS bekommen. Ja, dass es vorangeht, beruhigt mich.

Und was mir auch etwas von der Angst vor der Zukunft genommen und wirklich Kraft gegeben hat, war die Reha.  

Wie das? Erzählen Sie mal.

Sie: Anfangs wollte ich nicht zur Reha. Ich hatte viel zu viel Angst, weil ich wusste, dort treffe ich auf das, was ich gar nicht sehen möchte. Ich vergleiche es gerne mit dem Blick in die Höhle des Löwen. Sich damit auseinanderzusetzen, mit der MS, mit sich selbst, das zu akzeptieren, ist ein schwerer Prozess. Das wollte ich nicht. Bis ich so am Boden war und meine Neurologin gesagt hat: „Ich glaube es wird Zeit, Sie müssen mal zu Reha.“

„Wir fuhren in den Westerwald, irgendwo ans Ende der Welt. Super.“

Kliniken, auch Reha-Kliniken, haben einen eigenwilligen Geruch. Ich konnte nichts mehr sagen, war wie gelähmt, weil ich mich auf einmal extrem damit auseinandersetzen musste. Damit, was jetzt meine Welt ist. Dann ging alles ganz schnell.

Wir haben uns im März die Klinik angeschaut und Mitte Mai bin ich eingecheckt. Montags um 14:00 Uhr bekam ich einen Anruf, bei dem ich gefragt wurde, ob ich am Mittwoch dort sein könne. Das war das Beste, was mir passieren konnte, denn ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Am Ende hatte ich vier sehr erholsame Wochen, die mir ein Dreivierteljahr Energie gegeben haben.

Er: Ja, du hast viel über dich, über die Krankheit gelernt und hattest Zeit, dich auch mal auf dich zu konzentrieren. Alles, was sonst belastet im Leben, ist weg. Dinge, die man noch im Rucksack herumträgt, womit man unnötig Energie verliert, sind nicht da.

Sie: Als Mutter fiel es mir schwer, in die Reha zu gehen. Die Frage, wie es ohne mich zu Hause weitergeht, spielt natürlich eine Rolle, auch weil ich jegliche Kontrolle abgeben musste. Da hat man über seine Gesundheit schon keine Kontrolle, über den Geschirrspüler aber eben schon. Das fiel mir sehr schwer. Beim zweiten Mal bin ich tatsächlich auch mal kurz nach Hause gefahren, für eine Kindergartenfeier, bei der ich als Mama da sein wollte.

„Diese Klinik, das ist einfach ein Energiespender.“

Ich habe während der Reha viel gelernt und vor allem viele, sehr positive MS-Patienten kennengelernt. Das Gefühl, das sie alle getragen haben, hat mir sehr viel Kraft gegeben. Jetzt würde ich immer wieder eine Reha machen und in den Westerwald fahren.

MS und ich: Ein gepflegter Parkweg mit Bank im Gegenlicht

Wie geht man als Partner mit der MS-Erkrankung um?

„Es ist jetzt nicht jeden Sonntag Gesprächsthema.“

Er: Aber es ist schon sicherlich anders als in anderen Beziehungen. Es belastet ja auch, weil es nicht nur um den Haushalt, die Kinder, die Familie und den Beruf geht. Da ist immer auch noch etwas anderes, das Energie und Zeit kostet. Und oft ist man als Partner machtlos.

Da sie viele Sachen mit sich selbst ausmacht, weiß ich nicht immer, was in ihr vorgeht. Sie ist aber relativ stark in dieser Situation. Sich öffnen und mitteilen, das macht meine Frau lieber mit anderen.

Mit wem findet der Austausch dann statt?

Sie: Ich habe eine Freundin, die auch MS hat, mit der ich mich austausche. Wir haben uns während der Reha kennengelernt und festgestellt, wir sind für uns die besten Ansprechpartner. Man unterhält sich und merkt: Cool, noch jemand, der das hat! Das ist schon schön, Wegbegleiter zu haben. Klar muss man auch Glück haben und an die passenden Leute geraten, aber ohne ein Netzwerk bist du ein bisschen verloren, glaube ich.

„Googlen Sie nicht!“

Das hat eine Stationsärztin zu mir gesagt. Am Anfang hatte ich keinen, der da war, und ich habe nur Menschen getroffen, die in Ohnmacht gefallen sind. Jeder ist davon ausgegangen, dass ich in drei Jahren im Rollstuhl sitze. Den meisten Optimismus hatte ich.

Es gibt keinen, der diesen Rundumblick hat, und man muss sich selbst viel an Informationen besorgen. Wenn man von den Erfahrungen, die andere gemacht haben, hört, kann man das sicherlich abkürzen und muss nicht alles selbst herausfinden. Aber jeder ist anders, jeder reagiert ein bisschen anders und ganz ohne Selbsterfahrung und Ausprobieren wird es nicht gehen.

MS und ich: Spruch: Akzeptanz und Geduld sind die Schlüsselwörter in meinem Leben

Was sind Ihre Tipps für den Umgang mit MS?

„Die Krankheit sollte nicht dein Chef sein.“

Sie: Was wichtig ist, ist ein offener Umgang mit der Krankheit und dabei positiv zu bleiben. Wenn man das ausstrahlt, dann sehen das auch alle anderen. Ich versuche, der Krankheit keine Macht über mich und meine Psyche zu geben. Die Krankheit kann ich nicht beeinflussen, meine Psyche hingegen schon. 

Er: Ein bisschen ist es wahrscheinlich auch typabhängig. Man kann sich natürlich in die Ecke zurückziehen und klagen oder man versucht, es ein bisschen positiv sehen. Das, denke ich, verarbeitet jeder anders. Der positive Ansatz, den meine Frau gewählt hat, ist einfach ihre Natur.

Sie: Es gibt sicherlich viele Menschen, die damit hadern, wie der Hansi, der neben mir gewohnt hat. Der hat die Welt nicht verstanden, hat nicht verstanden, warum ausgerechnet er krank ist. Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt. Akzeptanz kann ein Schlüssel sein. Die Dinge, die man geändert hat, muss man akzeptieren.

„Akzeptanz und Geduld sind die Schlüsselwörter in meinem Leben.“

Ich glaube, es muss auch mehr darauf geachtet werden, wie man das Leben noch ein wenig lebenswerter machen kann. Es sollte sich nicht nur um den Schub drehen, sondern um diese ganzen Kleinigkeiten. Ja, der Körper macht schlapp, aber warum macht er das jeden Monat? Das fehlt mir persönlich sehr. Man braucht jemanden, der sagt: Ja, das gehört dazu. Oder der erklärt, was das genau ist und dass es zur Krankheit gehört. Vieles muss man selbst ausprobieren und dazu braucht man Geduld. Der Patient, aber auch der Arzt.

„Die MS und ich, wir haben uns aneinander gewöhnt und nach fünf Jahren bin ich auf einem guten Weg.“

Momentan bin ich auf dem Level und medikamentös so eingestellt, dass es mir relativ gut geht. Leben genießen, Weinchen trinken, Freunde genießen. Das ist das, was wir gerne machen.

Liebe Marie, Lieber Martin, vielen Dank für Eure offenen Worte! Euer MS & ich Team

 

*Namen wurden von der Redaktion geändert