Wird die Diagnose MS erstmals gestellt, ist das für die Betroffenen meist ein Schock. Ganz gleich, in welcher Lebensphase sie sich befinden, ob sie jünger oder älter sind. Aber nicht nur für sie beginnt mit den ersten Symptomen und der Gewissheit eine seelische Achterbahnfahrt – auch für ihre Angehörigen.
„Sie haben Multiple Sklerose“, diese wenigen Worte können so viel verändern. Ich selbst habe sie 2016 gehört. Sie machten etwas mit mir und mit meinem Umfeld. Ich fühlte mich mit ihnen vollkommen neben der Spur, abwesend. Meine Zwillingsschwester verfiel in fassungslose Stille, meine Oma brach in Tränen aus, gleichzeitig versuchte sie stark zu sein. Andere Personen aus meinem Umfeld sprachen mir Mut zu, in dem sie mir versicherten: „Wir schaffen das gemeinsam.“ Nach einer solchen Diagnose ist die Anfangsphase für beide Seiten überfordernd und neu. Da tut es gut, wenn die Familie und der Freundeskreis wissen, was wir als MS-Betroffene uns im Umgang mit der Diagnose wünschen. Gerade zu Beginn ist es oft schwer einen klaren Kopf zu bewahren, noch schwieriger ist es, Entscheidungen oder Wünsche zu äußern. Deshalb möchte ich meine Erfahrungen und Wünsche – auch wenn sie individuell sind – als Orientierung und vielleicht auch als Anregung mit euch teilen.
Was ich mir als MS-Betroffene wünsche
Einlesen in die Erkrankung!
Mir selbst war der Begriff „Multiple Sklerose“ noch recht fremd, als ich 2016 meine Diagnose bekam. Nur flüchtig – durch Erzählungen eines Schulkameraden, dessen Mutter mit MS bereits bettlägerig war – hatte ich erstmals Kontakt mit MS. Das hat mein Bild von MS einseitig und dramatisch geprägt.
Heute weiß ich, die MS gibt es nicht. MS verläuft sehr facettenreich und ist daher sehr individuell von Mensch zu Mensch. Daher empfehle ich MS-Betroffenen, ihren Freund*innen und Angehörigen, sich zuallererst ausführlich über die Erkrankung zu informieren. Hast du dann schon mal einen besseren Überblick über die Krankheit, Symptome und den Verlauf, kann offener gesprochen, können damit Missverständnisse aus dem Weg geräumt werden. Beispiel Energielevel: Das schwankt bei vielen MS-Betroffenen von Tag zu Tag. Die sogenannte Fatigue ist kräftezehrend, das macht soziale Aktivitäten oft anstrengend. Immer wieder muss auch ich mir eingestehen, dass ich keine Kraft habe, und ich muss dann Verabredungen spontan absagen. Wenn der andere das weiß, ist meine Absage keine Zurückweisung oder eine Form von Desinteresse, sondern ein Handeln aufgrund meiner Symptome. Um solche Situationen allgemein besser nachvollziehen zu können, hier meine Top 3 Fragen für Freund*innen und Familienangehörige an uns:
- Kannst du mir helfen zu verstehen, wie sich deine Symptome für dich anfühlen?
- Auf einer Skala von 1 bis 10, wie fühlst du dich heute?
- Gibt es etwas, dass dir zurzeit schwerfällt, bei dem ich dich (mehr) unterstützen kann?
Samthandschuhe und Bevormundung adé
Oft wird außer Acht gelassen, dass mit der Diagnose nicht ein komplett anderer Mensch vor einem steht, sondern derselbe Mensch, nur eben jetzt mit MS. Familienangehörige und Freund*innen denken oft, dass sich durch die Erkrankung der Umgang mit der erkrankten Person ändern muss. Entgegengebrachtes Mitleid hilft dabei selten: Sätze wie „oh, das tut mir so unendlich leid, es muss wirklich schlimm sein, mit der Diagnose zu leben“, geben mir erst recht das Gefühl schwach und krank zu sein. Mir ist bewusst, dass eine Diagnose wie die MS für viel Neugierde sorgt. Aber eingebrachtes Mitleid bringt oft altes Leid und ungewollte Bedrücktheit zum Vorschein, das kann sehr unangenehm sein.
Gleichzeitig mit Mitleid kommt auch immer wieder der Gedanke, Erkrankte fortan mit Samthandschuhen behandeln zu müssen. Gerade weil mit MS jeder Morgen, jedes Erwachen neu und anders bezüglich der Körperfunktionen sein kann, ist es mir enorm wichtig, so selbstständig wie möglich sein zu dürfen, solange ich es kann und möchte. Trotzdem passiert es, dass wir in vielerlei Hinsicht, aus Rücksicht, bevormundet werden. Einkäufe tragen, Kisten schleppen, Auto fahren, Sport treiben? – Kann ich. Solange ich andere nicht explizit darum bitte, mir zu helfen. Mich mit Samthandschuhen zu behandeln, rückt meine Erkrankung immer wieder in den Vordergrund. Dabei wünsche ich mir, dass sie meine Persönlichkeit nicht verdrängt. Vielmehr freue ich mich darüber, wenn meine Freund*innen und Familienangehörigen mich mit meiner MS begleiten, anstatt bevormunden.
Wie Begleitung bei MS aussehen kann
- Auf Wunsch bei Arztterminen vor Ort dabei sein
- Mithelfen bei der Einnahme oder Gabe von Medikamenten
- An wichtige Termine und Medikamenteneinnahme erinnern
- MS-Betroffene in ihrer Selbstständigkeit fördern und bestärken
Offen und ehrlich kommunizieren
Krankheiten betreffen immer ALLE Menschen aus dem eigenen Umfeld. Das bedeutet, dass nicht nur die an MS erkrankte Person sich mit der Diagnose arrangieren muss, sondern auch ihr komplettes Umfeld. Oft ist die größte Hürde, dass beide Seiten sich Gedanken darüber machen, wie viel über die Erkrankung gesprochen werden soll und darf. Ich als MS-Betroffene möchte meinem Umfeld keine Sorgen bereiten, wenn ich über meine MS spreche. Wiederum Freund*innen und Familie möchten mich mit ihren Fragen nicht noch mehr belasten. Ein Teufelskreis. Das Wichtigste ist, offen und ehrlich zu kommunizieren, denn die Krankheitsbewältigung gelingt besser und schneller, wenn wir Sorgen, Probleme und Missverständnisse gemeinsam ansprechen und besprechen.
Mir bedeutet es viel, wenn auch ich die Grenzen meiner Mitmenschen kenne. Daher wünsche ich mir, dass meine Familie und Freund*innen achtsam für sich selbst sind und dabei auf ihre eigenen seelischen und körperlichen Grenzen achten.
Gerne möchte ich dir zu guter Letzt nochmals verinnerlichen, dass die Erkrankung nur einen Teil des Lebens darstellt und nicht dein gesamtes Leben definiert. Also: Atme einmal tief durch und genieße das Leben.