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Teil 2 des Experteninterviews mit Prof. Dr. Herbert Schreiber

5. Welche Faktoren spielen für Sie als Arzt eine Rolle und welche Faktoren von Patienten werden mit einbezogen?

Bei Therapieentscheidungen sind wir als Ärzte in besonderer Weise gefordert, unsere medizinische Kompetenz und Erfahrung einzubringen und gemeinsam mit dem Patienten realistische Therapieziele zu definieren. Dabei geht es darum, den Patienten für eine Therapie zu motivieren, jedoch überzogene Erwartungen zu dämpfen und auch einem therapeutischen Nihilismus („Man kann ja sowieso nichts machen“) entgegenzuwirken. Man muss sich als Arzt auch immer bewusst sein, dass der Patient Therapieziele und -ergebnisse möglicherweise anders bewertet und gewichtet, als der Arzt es durch seine „fachliche Brille“ tut. So konnte in einer vielbeachteten Studie herausgearbeitet werden, dass Ärzte dazu neigen, physische Beeinträchtigungen und Körpersymptome, z. B. Schmerzen, am stärksten zu gewichten – während für Patienten psychisches Wohlbefinden, geistige Gesundheit und Vitalität am wichtigsten waren. Daraus ergeben sich schnell unterschiedliche Vorstellungen, was eine gute Therapie leisten soll. Das Ziel muss es daher sein, Arzt- und Patientenperspektive möglichst weit in Einklang zu bringen. Dies gelingt am besten durch eine offene und authentische Arzt-Patienten-Kommunikation.

Auf dieser Basis können dann Therapieentscheidungen durch den Arzt systematisch vorbereitet werden. Dazu ist es notwendig, dass alle wichtigen Aspekte angesprochen werden. Vonseiten des Arztes sind dabei folgende Faktoren wesentlich: möglichst exakte Diagnostik und Einordnung des Schweregrades des Krankheitsbildes, Definition des sich daraus ergebenen Handlungsbedarfs, Indikationsstellung zugelassener Medikamente in Relation zur Verlaufsform der MS, Darstellung des Nebenwirkungsprofils und der Nutzen-Risiko-Relation möglicher Medikamente, Besprechung des Anwendungsmodus und der Praktikabilität im Alltag sowie des Einsatzes der Medikation in speziellen Situationen (z. B. bei Schwangerschaft und Reisen).

Fest steht: Eine gemeinsam von Patient und Arzt sorgsam getroffene Entscheidung für eine bestimmte Therapie, die individuell am besten ins Leben des Betroffenen passt, wird sich am ehesten positiv auf die Therapietreue und somit auch auf den Krankheitsverlauf auswirken.

„Eine gemeinsam von Patient und Arzt sorgsam getroffene Entscheidung für eine bestimmte Therapie ... wird sich am ehesten positiv auf die Therapietreue und somit auch auf den Krankheitsverlauf auswirken.“

Prof. Dr. Herbert Schreiber, Ulm

6. Wie läuft der Dialog mit dem Patienten und welche Fragen werden am häufigsten gestellt?

Der Dialog mit dem Patienten sollte partnerschaftlich verlaufen, offen und ohne Tabus. Nur so kann vermieden werden, dass der Arzt-Patienten-Dialog zu einer Einbahnstraße wird – und letztlich zu einem Monolog des Arztes degeneriert. Insbesondere bei Therapieentscheidungen im Rahmen chronischer Erkrankungen wie der MS muss genug Zeit eingeplant werden, um alle relevanten und offenen Fragen zu klären.

Folgende Fragen werden am häufigsten gestellt:

  • Was ist die Multiple Sklerose (MS) für eine Krankheit? Was ist die Ursache?
  • Wie verläuft die MS und welche Formen gibt es? Bedeutet Multiple Sklerose ein Leben im Rollstuhl?
  • Was sind die typischen Beschwerden, die auf einen erneuten MS-Schub oder eine schleichende Behinderung hindeuten können?
  • Wie sieht die heutige medizinische Behandlung aus? Welche Medikamente gibt es für welches Stadium? Welche Nebenwirkungen haben Sie? Ist MS heilbar?
  • Wodurch werden Schübe ausgelöst? Kann ich mich schützen? Muss ich Stress vermeiden?
  • Soll ich mich impfen lassen, vor allem gegen Grippe und COVID-19? Habe ich dann ein höheres Risiko für eine Impfreaktion? Ist meine Impfantwort abgeschwächt?
  • MS und Kinderwunsch – was muss ich bei einer Schwangerschaft beachten? Vererbt sich die MS auf die Kinder?
  • Darf ich als MS-Patient Sport treiben?
  • Was muss ich bei Urlaubsreisen beachtend (bezüglich Hitze und Ernährung)?
  • Soll ich regelmäßig Vitamin D einnehmen?
  • Was sage ich meinem Arbeitgeber und wann?
  • Wohin kann ich mich mit meinen Behinderungen wenden?

7. Was wird bei der Ersteinstellung im Vergleich zur Umstellung besprochen? Welche Faktoren sind bei der Umstellung bei der Therapieentscheidung anders? Wenn der Patient bereits Erfahrung zu Therapie und Krankheit mitbringt, wie wird die Umstellung dadurch beeinflusst?

Bei Erkrankungsbeginn und Therapie-Ersteinstellung geht es vor allem um Fragen zur Erkrankung MS: Ursachen, typische Symptome, Verläufe, Schädigungsmechanismen und Therapieoptionen. Die Patienten interessieren sich dafür, ob sie Behinderungen zu erwarten haben („Komme ich in den Rollstuhl?“), an welchen Symptomen sie künftige Schübe und auch eine schleichende Zunahme ihrer MS erkennen können, und wie sie darauf reagieren sollten. Auch Fragen zum langfristigen Therapiemonitoring stehen an. In dieser Phase ist es wichtig, eine möglichst angstfreie Krankheitsverarbeitung zu fördern und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer frühzeitigen und konsequenten Langzeittherapie zu schaffen.

„Eine Therapieumstellung bedeutet immer eine kritische Situation mit Gesprächsbedarf.“

Prof. Dr. Herbert Schreiber, Ulm

Eine Therapieumstellung bedeutet immer eine kritische Situation mit Gesprächsbedarf, da sich eine Vortherapie als nicht ausreichend wirksam erwiesen hat oder aufgrund nicht tolerierbarer Nebenwirkungen abgesetzt werden musste. In diesem Zusammenhang steht meistens eine Neudefinition von Therapiezielen an, die dann mit höherwirksamen Medikamenten erreicht werden sollen. Auch hier muss der Arzt mit Gefühl für die Situation handeln und seinen Patienten eine realistische Perspektive aufzeigen. Aus psychologischer Sicht sind Situationen der Therapieumstellung besonders kritisch, da erfahrungsgemäß vermehrt Depressionen und Herausforderungen in der Krankheitsverarbeitung auftreten. Auf diese muss der Arzt in der Gesprächssituation adäquat reagieren, um das Vertrauen des Patienten nicht zu verspielen.

8. Wie vorbereitet sollte ein Patient in das Gespräch kommen? Was sollte er mitbringen?

Der heutige Patient kommt in der Regel nicht unvorbereitet in die Sprechstunde. Wussten Sie, dass 58 % der Patienten, die wegen gesundheitlicher Probleme erstmals den Arzt aufsuchen, sich im Internet vorab informiert haben? Und dass 62 % dieser Patienten es im Nachhinein nochmals tun? Das hat zumindest eine Befragung der Bertelsmann Stiftung im Jahre 2018 ergeben. „Dr. Google“ sitzt also meist mit im Sprechzimmer. Doch viele Patienten sehen dann vor lauter „Internet“-Bäumen den Wald nicht mehr. Hier kann es sinnvoll sein, die Beschwerden und Fragen durch eine kleine Dokumentation zu ordnen.

Unter Umständen kann es auch sinnvoll sein, Angehörige mitzubringen, um den Patienten bei der Beschwerdeschilderung zu unterstützen und möglicherweise Hintergrundinformationen zu vermitteln. Dann kann der Arzt strukturierter darauf eingehen. In vielen Fällen sind solche Symptomdokumentationen jedoch nicht nötig und auch nicht hilfreich, da sie den spontanen Redefluss behindern und so die Authentizität der Beschwerden mindern.

Der Arzt sollte flexibel und situativ angepasst auf mitgebrachte Notizen und vorgefasste Symptomdokumentationen reagieren, gleichzeitig jedoch auch ein wachsames Auge darauf haben, dass eine Überfrachtung der Sprechstunde mit Informationen und Fragen vermieden wird. Um das Wissensbedürfnis von Patienten zu stillen, kann es auch ratsam sein, den Patienten auf seriöse Informationsquellen im Internet zu verweisen, um eine patientengerechte Aufklärung zu fördern.

9. Wie gehen Sie mit Therapievorschlägen von Patienten um? Sind dies häufige Situationen in Ihrem Praxisalltag mit MS-Patienten?

Die heutigen Patienten sind, wie schon erwähnt, durch die Informationsmöglichkeiten des Internet im Allgemeinen deutlich besser informiert als früher. Deshalb kommt es in meiner Sprechstunde regelmäßig vor, dass sich Patienten aktiv in Therapiegespräche einbringen, Vorschläge des Arztes hinterfragen und auch alternative Vorschläge unterbreiten. Solche Intervention können uns Ärzte viel Zeit kosten. Dennoch lohnt es sich, im Sinne des Erhalts einer guten Gesprächsatmosphäre, auf solche Vorschläge und Nachfragen konstruktiv zu reagieren, sie dankbar aufzugreifen, nicht abzutun oder gar abzuwerten, sondern vielmehr zuzuhören und die Einwände als zusätzliche Eckpunkte der Patientenaufklärung zu nutzen. Und hier noch etwas Beispielhaftes zum Nachdenken von C.R. Rogers, dem Erfinder der non-direktiven Gesprächstherapie. Er sagte einmal: „Es ist im Leben sehr selten, dass uns jemand zuhört und wirklich versteht, ohne gleich zu urteilen. Dies ist eine sehr eindringliche Erfahrung.“ … und für uns Ärzte eine ständige Herausforderung, an der wir uns orientieren sollten.

Prof. Dr. Schreiber, vielen Dank für das Interview.

„Es ist im Leben sehr selten, dass uns jemand zuhört und wirklich versteht, ohne gleich zu urteilen. Dies ist eine sehr eindringliche Erfahrung.“

C. R. Rogers, Erfinder der non-direktiven Gesprächstherapie

Literatur:

Ben-Zacharia A, Adamson M, Boyd A, Hardeman, P, Smrtka J, Walker B, Walker T. Impact of Shared Decision Making on disease-modifying drug adherence in Multiple Sclerosis. Int J MS Care. 2018; 20(6): 287–297.doi: 10.7224/1537-2073.2017-070.  PMCID: PMC6295876. PMID: 30568566
Bertelsmann Stiftung, Gesundheitsmonitor, Pressemitteilung, Gütersloh, 20/06/2014.
Bertelsmann Stiftung, Spotlight Gesundheit Nr. 2, 2018: „Wer sucht, der findet - Patienten mit Dr. Google zufrieden?“.
Colligan E, Metzler A, Tiryaki E. Shared decision-making in multiple sclerosis. Multiple Sclerosis Journal 2017, Vol. 23(2) 185–190.  DOI: 10.1177/. 1352458516671204
Heesen C, Kasper J, Segal J, Köpke S, Mühlhauser I. Decisional role preferences, risk knowledge and information interests in patients with multiple sclerosis. Mult Scler. 2004 Dec;10(6):643-50. doi: 10.1191/1352458504ms1112oa. PMID: 15584489
Perrin Ross, A.: Shared Decision-Making in Multiple Sclerosis Management. Practical. Engaging and informing patients about the disease, therapy, and lifestyle is the cornerstone of effective multiple sclerosis care. Practical Neurology, Cover story (April 2017).
Rothwell PM, McDowell Z, Wong CK, Dorman PJ. Doctors and patients don‘t agree: cross sectional study of patients‘ and doctors‘ perceptions and assessments of disability in multiple sclerosis. BMJ. 1997;314 (7094):1580-3. doi: 10.1136/bmj.314.7094.1580.  PMID: 9169401; PMCID: PMC2126825