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Kognition ist elementar für alle Prozesse der Aufnahme und Speicherung von Informationen. Bei etwa 40 – 65 % der MS-Betroffenen treten kognitive Probleme auf, die die Lebensqualität beeinträchtigen können. Darum ist es wichtig, Defizite bei der Kognition frühzeitig zu erkennen und zu therapieren. Hier beantwortet der Neurologe Prof. Dr. Herbert Schreiber die wichtigsten Fragen zum Thema Kognition bei MS: von Kognitionsstörungen über Einflussfaktoren bis zu MS-Therapien zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit.

Portraitbild von Prof. Dr. Herbert Schreiber

Prof. Dr. Herbert Schreiber ist Professor für Neurologie und außerordentlicher Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm.

Zu seinen wissenschaftlichen Interessengebieten gehören kognitive und Verhaltensstörungen bei neurodegenerativen und entzündlichen Hirnerkrankungen, neurogenetische Störungen, erbliche Neuropathien und neuromuskuläre Störungen.

Prof. Dr. Schreiber ist Hauptprüfer in mehreren multizentrischen Studien über Multiple Sklerose und neurodegenerative Erkrankungen. Er ist auch Mitglied der NTD-Studiengruppe, einem nationalen Netzwerk von 75 neurologischen Praxiszentren, das derzeit eine Reihe von multizentrischen Studien auf nationaler Ebene durchführt und überwacht.

1. Was sind kognitive Fähigkeiten?

Das Wort Kognition kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „denken“ oder „überlegen“. In der Wissenschaft zählt Kognition zu den sogenannten höheren Hirnfunktionen des Menschen. Dazu gehören die Schnelligkeit und Kapazität der Informationsverarbeitung sowie Aspekte der Aufmerksamkeit, die die Sinne auf die wichtigen Informationen lenken. Außerdem Lernen und Gedächtnis, planerisches Denken und Verhaltenssteuerung – und vor allem auch die Urteilsfähigkeit im sozialen und moralischen Kontext.

2. Warum kann die Kognition bei MS-Betroffenen beeinträchtigt sein und wie unterscheiden sich diese Kognitionsstörungen von anderen, zum Beispiel bei Alzheimer?

Die Kognitionsstörungen bei Multipler Sklerose unterscheiden sich fundamental von jenen bei Alzheimer, in der Ausprägung und auch in der Ursache. Bei Alzheimer ist der Kern der Kognitionsstörung eine Demenz. Dabei ist die Fähigkeit, neue Informationen im Gedächtnis zu speichern, gestört. Die Ursache dafür sind Abbauprozesse von Nervenzellen (Neuronen) und Ablagerungen pathologischer Proteine (Amyloide) an den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen (Synapsen). Dadurch wird die Kommunikation der Synapsen behindert und schließlich zerstört. Entzündlich-immunologische Prozesse spielen dabei nach bisheriger Kenntnis keine oder zumindest eine untergeordnete Rolle.

Bei MS dominieren dagegen schon in frühen Phasen entzündliche Läsionen, vor allem an den Myelinscheiden, also der Umhüllung der Nervenfasern. Sie führen dort zu einer Entmarkung der Nerven (Demyelinisierung). Im Kernspin sind sie als weiße Flecken („Entmarkungsherde“) vor allem in der weißen Substanz des Gehirns sichtbar. Man kann sie mit einem löchrigen Kabel vergleichen. Die Ursache sind Autoimmunreaktionen, das heißt: Bei MS greift das körpereigene Immunsystem aus bislang unbekannten Gründen das eigene Nervensystem an. Obwohl das Innere der Nervenkabel (Axon) anfangs meist noch intakt ist, kann es bei zunehmenden Demyelinisierungen degenerieren. Dadurch kommt es bei MS zu einem Hirnabbau (Hirnatrophie).

Im Bild des löchrigen Kabels bedeutet das, dass bei MS der Informationsfluss im kognitiven Netzwerk des Gehirns langsamer und fehlerhafter wird. Daher kommt es bei MS früh zu einer Verlangsamung der Informationsverarbeitung und zu Defiziten der Aufmerksamkeit.

Interessanterweise ist bei MS im Bereich des Gedächtnisses gar nicht so sehr das Einspeichern von Informationen betroffen, vielmehr die Verbindung der eingespeicherten Gedächtnisinhalte mit Raum und Zeit. Im Gegensatz zum Alzheimer handelt es sich bei MS also nicht um eine Demenz, sondern um kognitive Teilleistungsstörungen, die sich aber sehr negativ auf den Alltag und die Lebensqualität auswirken können.

3. Wie häufig sind kognitive Probleme bei MS und wie wahrscheinlich ist es, dass MS-Betroffene Kognitionsstörungen im Verlauf ihrer Erkrankung entwickeln?

Kognitive Störungen gehören neben der Fatigue und der Depression zu den häufigsten nichtmotorischen Symptomen der MS. Etwa 40 – 60 % aller MS-Patient*innen haben kognitive Defizite. Die Häufigkeit hängt dabei stark vom Subtyp der MS ab. So werden bei (primär und sekundär) progredienten MS-Formen deutlich häufiger kognitive Störungen beobachtet als bei schubförmiger MS. Interessanterweise sind die von der Störung betroffenen kognitiven Bereiche zwischen den MS-Subtypen nahezu identisch. Ein Blick auf die individuellen Krankheitsverläufe zeigt, dass die Kognitionsstörungen oft bereits früh im Verlauf der MS auftreten. Studien zeigen zudem, dass sie anfangs in der Intensität rascher und deutlicher zunehmen, später aber nur noch geringfügig und langsam fortschreiten.

Dennoch sind kognitive Defizite in späteren progredienten Phasen der MS aufgrund der langen Krankheitsdauer oft stärker ausgeprägt als in der Frühphase. Sie stellen zudem immer ein Alarmsignal dar, da sie als negative Prädiktoren für eine spätere Krankheitsprogression gelten. Dies hängt wahrscheinlich mit der eingeschränkten Netzwerkfunktion des Gehirns zusammen. In Langzeitbeobachtungen zeigte sich, dass MS-Patient*innen mit frühen Kognitionsstörungen häufiger zu einer sekundär progredienten MS konvertieren und auch häufiger andere progrediente Symptome wie Gangstörungen, Spastik und sogar eine verstärkte Hirnatrophie aufweisen.

4. Wie äußern sich kognitive Veränderungen? Wie kann ein*e Patient*in erkennen, ob er*sie kognitive Probleme hat?

Kognitive Veränderungen bei MS sind vielschichtig und äußern sich oft in komplexer Weise. Aus neuropsychologischer Sicht betreffen die Defizite vor allem folgende vier kognitive Kernbereiche:

  • Einschränkungen in der Informationsverarbeitung
  • Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme
  • Defizite im Arbeits- und episodischen Gedächtnis
  • Beeinträchtigungen der sogenannten exekutiven Funktionen

Was bedeutet das für MS-Betroffene im Alltag?

Zunächst sei gesagt, dass MS-Patient*innen kognitive Störungen anfangs nur sehr schlecht einordnen können, da sie diese meist nur auf sehr subtile Weise wahrnehmen. Als frühes Symptom beklagen sie oft, dass sie geistig „langsamer“ und „unkonzentrierter“ seien. Dies hängt mit Einbußen der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit zusammen. Die damit verbundene kognitive Verlangsamung lässt sich aber bereits zu Beginn der MS mit speziellen Screeningtests nachweisen. Auch im Alltag wirkt sich eine kognitive Verlangsamung heute wesentlich nachteiliger aus als früher, weil in unserer zunehmend digitalisierten Welt viele Informationen schnell erfasst und verarbeitet werden müssen. MS-Betroffene spüren, dass sie im Lebens- und Berufsalltag deutlich mehr Zeit für die Erledigung ihrer Aufgaben brauchen und dabei schneller überfordert sind. Sie fallen dadurch rasch negativ auf und haben mehr Stress, wodurch das Risiko für Burn-out und Mobbing steigt.

Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme, die gerade MS-Patient*innen mitunter deutlicher in Stresssituationen spüren, kommen hinzu und verstärken das Kognitionsproblem. Die Folge sind noch mehr Fehler, die sich nachteilig auf die Leistungsfähigkeit in Alltag und Beruf auswirken. Deshalb denken MS-Patient*innen oft, sie seien überarbeitet. Dahinter verbergen sich aber subtile Defizite des Arbeitsgedächtnisses und der sogenannten exekutiven Funktionen, die Planung und Verhalten steuern und geistige Flexibilität vermitteln. Die Patient*innen beklagen im ärztlichen Gespräch, sie fühlten sich zerfahren, kopflos und würden ständig Fehler machen.

Bei alledem wird deutlich: Bei MS liegt keine tiefgreifende Gedächtnisstörung wie bei der Demenz vor. Vielmehr betrifft die MS dynamische und geschwindigkeitsabhängige Teilleistungen. Das muss der Arzt, die Ärztin im Kontakt mit dem*der Patient*in klar herausstellen. Denn oft entwickeln Betroffene erhebliche Ängste, durch die MS dement zu werden. Diese Ängste können sogar bis zur Ablehnung der wichtigen kognitiven Screeningtests führen.

5. Wie wirken sich kognitive Störungen auf die Lebensqualität und die Berufsfähigkeit von MS-Patient*innen aus?

Kognitive Störungen stellen zu jedem Zeitpunkt der Erkrankung eine beachtliche Einschränkung der Lebensqualität dar. In vielen alltäglichen Lebensbereichen sind schnelle Auffassungsgabe und Flexibilität gefordert – denken Sie an Internet- und Handynutzung, bargeldloses Bezahlen oder Autofahren. Dabei können die Lebensqualität und die Berufsfähigkeit von MS-Patient*innen durch verschiedenste körperliche, psycho-soziale und kognitive Faktoren beeinträchtigt werden.

In der Frühphase der MS spielen die kognitiven Defizite neben Fatigue und psychischen Faktoren (Krankheitsverarbeitungsprobleme mit Ängsten und Depressionen) eine entscheidende Rolle. Und weil sich diese Störungen gegenseitig negativ beeinflussen, wird die Lebensqualität von mehreren Seiten beeinträchtigt.

In späteren, progressiven Phasen der MS können auch körperliche Beeinträchtigungen die Lebensqualität und Berufsfähigkeit verstärkt einschränken. Dennoch bleiben kognitive Defizite, Fatigue und Depressionen unabhängig von der Krankheitsdauer und dem Krankheitsstatus wichtige Einflussfaktoren für die Lebensqualität.

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