6. Gibt es Einflussfaktoren, die zu Kognitionsstörungen führen können – etwa MS-bedingte Stimmungsschwankungen, Fatigue oder Depression?
Einflussfaktoren auf die Kognition bei MS sind vielfältig und deshalb im Einzelfall nur schwer zu erfassen. Studien konnten jedoch nachweisen, dass vor allem direkte negative Einflussfaktoren auf die Kognitionsentwicklung bei MS eine große Rolle spielen. Hier sind zu nennen:
- ein höheres Alter zum Beginn der Krankheit
- kognitive Defizite vor der Erkrankung
- ein fortgeschrittenerer Krankheitsstatus
- eine geringere körperliche Aktivität vor der Erkrankung, und zwar bereits während des Kindes- und Jugendalters
Auch Fatigue und Depression können als häufige Begleitsymptome der MS die Kognition negativ beeinflussen. Die negative Einwirkung ist allerdings nicht in allen kognitiven Bereichen gleich ausgeprägt, sondern betrifft vor allem die geschwindigkeitsabhängigen Leistungen und bestimmte Aufmerksamkeitsfunktionen, die sowieso bei MS anfällig (sensibel) sind. Bei der Verlaufsbeobachtung kognitiver Funktionen von MS-Patient*innen im klinischen Alltag sollte deshalb immer auch ein Fatigue- und Depressionsscreening, idealerweise auf der Basis kurzer Selbstbeurteilungsfragebögen (z. B. FSMC), erfolgen.
7. Wie können Ärzt*innen Kognitionsstörungen diagnostizieren und tracken (nachverfolgen)?
Die Diagnostik von vermuteten Kognitionsstörungen bei MS sollte stufenweise und bedarfsorientiert erfolgen. Am Beginn muss immer eine zielgerichtete Anamnese stehen, da kognitive Defizite oft subtil sind und von den Patient*innen nur unscharf wahrgenommen und artikuliert werden. Im Fokus stehen dabei:
- Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen
- Fehlleistungen, Überforderung und Strukturierungsprobleme im Alltag
- berufliche Belastungen, aber auch Erschöpfung (Fatigue), Depressionen und (Versagens-)Ängste
Verdachtsmomente in der Anamnese können dann durch einfach und schnell durchführbare Screeningtests objektiviert werden. Dazu eignet sich besonders der Symbol Digit Modalities Test (SDMT), der verlässlich und sensitiv die kognitive Verlangsamung erfasst, die das frühe Leitsymptom der Kognitionsstörung bei MS darstellt. Einen etwas tieferen diagnostischen Einblick gewähren Screeningbatterien (z. B. BICAMS, Brief Repeatable Battery (BRB von Rao). Die derzeit international gebräuchlichste Batterie stellt das Brief International Cognitive Assessment bei MS (BICAMS) dar, das drei Tests beinhaltet. Sie erfassen die Leistungsbereiche Informationsverarbeitung (SDMT), verbales (CVLT, in Deutschland AVLT) und nonverbales Gedächtnis/Lernen (BVMT-R).
Wichtig dabei ist: Screeninginstrumente ersetzen keine ausführlichen neuropsychologischen Untersuchungen. Vielmehr sensibilisieren sie für das Thema Kognition und zeigen bei abfallender Leistung im Vergleich zu individuellen Vortests kognitive Verschlechterungen früh an. Bei Bedarf muss deshalb eine Überweisung an neuropsychologische Fachkräfte zur detaillierten Testung erfolgen.
8. Welche Rolle spielt das Monitoring der Kognition?
Da MS eine chronische Erkrankung ist und immer die Gefahr der schleichenden Progression beinhaltet, ist eine regelmäßige Bewertung des kognitiven Status von Patient*innen ebenso wichtig wie die Überwachung der körperlichen Fähigkeiten anhand des neurologischen Status bzw. der strukturierten Expanded Disability Status Scale (EDSS-Skala). Der kognitive Status sollte daher bei allen neu diagnostizierten MS-Patient*innen als sogenannter Baseline-Wert erhoben werden. Aufgrund der Bedeutsamkeit der kognitiven Leistungsfähigkeit für das Berufs- und Sozialleben und auch die psychische Befindlichkeit ist eine regelmäßige orientierende Erfassung der Kognition mittels eines Screeningtests in jährlichen Abständen zu empfehlen.
9. Welche Therapieansätze eignen sich bei kognitiven Problemen – Prophylaxe, indirekt, direkt?
Die Therapie der kognitiven Störungen bei MS ist eine langfristige Aufgabe und stellt Ärzt*innen vor große Herausforderungen. Man unterscheidet direkte Therapieansätze, bei denen die kognitiven Defizite gezielt therapeutisch angegangen werden, und indirekte Therapieansätze, bei denen im Rahmen der MS-Therapie mit krankheitsmodifizierenden Substanzen (DMTs) quasi als Nebeneffekt auch ein Schutz der kognitiven Funktionen angestrebt wird.
Die direkten kognitiven Therapieansätze beinhalten pharmakologische Therapien, insbesondere mit Antidementiva und Stimulantien, und nicht pharmakologische Therapien, wobei nur die kognitive Rehabilitation eine positive Rolle spielt. Zunehmend werden aber auch Bewegungstherapien eingesetzt. So erzielten individuelle Bewegungstherapien anhaltende positive Effekte. In Zukunft wird es darum gehen, standardisierte Rehabilitations- und Übungsverfahren noch systematischer einzusetzen und auf ihren Nutzen für den Erhalt der Kognition zu überprüfen.
10. Kann eine konsequente MS-Therapie die kognitive Leistungsfähigkeit verbessern oder Kognitionsstörungen vermeiden?
Angesichts der Tatsache, dass eine direkte medikamentöse Therapie der Kognitionsstörungen bei MS bisher nicht existiert, ist diese Frage für MS-Betroffene essenziell wichtig. Auch Beobachtungen, dass eine beschleunigte Abnahme des Hirnvolumens (Hirnatrophie) bei MS eng mit der Abnahme kognitiver Fähigkeiten verbunden ist, unterstreichen die Notwendigkeit einer rechtzeitigen effektiven Behandlung mit krankheitsmodifizierenden Medikamenten (desease-modifying therapies, DMTs), um die Kognition zu erhalten.
Therapeutische Langzeiteffekte aus bisherigen Studien konnten nachweisen, dass injizierbare und orale Basistherapeutika sowie die stärker wirksamen Präparate der 2. und 3. Wirksamkeitskategorie bei schubförmiger MS und erstmals auch ein Präparat bei sekundär progredienter MS in der Lage sind,
- das Risiko für das Auftreten kognitiver Defizite bei MS über die Zeit zu reduzieren
- die Entwicklung der Hirnatrophie im Krankheitsverlauf zu verzögern
- das Langzeitrisiko für das Fortschreiten kognitiver Defizite zu begrenzen
Für MS-Patient*innen gute Gründe, eine frühe, effektive Therapie auch unter dem Aspekt des Erhalts der Kognition anzustreben.
Herr Professor Dr. Schreiber, wir danken Ihnen für das Interview.