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An dieser Stelle befragen wir medizinische Experten zu Themen rund um die Multiple Sklerose. Den Anfang macht Prof. Dr. Herbert Schreiber. Im Folgenden beantwortet er Fragen zu Therapiezielen, -möglichkeiten und zum Dialog mit dem Patienten.

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Auf dem Bild ist ein Tablet zu sehen, welches in den Händen einer Person gehalten wird

„Der Dialog mit dem Patienten sollte partnerschaftlich verlaufen, offen und ohne Tabus.“

Prof. Dr. Herbert Schreiber, Ulm

MS & ich: Portrait von Prof. Dr. Herbert Schreiber

Prof. Dr. Herbert Schreiber ist Professor für Neurologie und außerordentlicher Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm.

Zu seinen wissenschaftlichen Interessengebieten gehören kognitive und Verhaltensstörungen bei neurodegenerativen und entzündlichen Hirnerkrankungen, neurogenetische Störungen, erbliche Neuropathien und neuromuskuläre Störungen.

Prof. Dr. Schreiber ist Hauptprüfer in mehreren multizentrischen Studien über Multiple Sklerose und neurodegenerative Erkrankungen. Er ist auch Mitglied der NTD-Studiengruppe, einem nationalen Netzwerk von 75 neurologischen Praxiszentren, das derzeit eine Reihe von multizentrischen Studien auf nationaler Ebene durchführt und überwacht.

1. Welche Therapieziele gibt es heutzutage bei der Behandlung von MS-Patienten?

Motiviert durch die kontinuierlichen Therapiefortschritte der letzten 20 Jahre sind die Therapieziele bei der Behandlung der MS heute anspruchsvoller. Früher musste man sich damit zufriedengeben, die Schubrate zu verringern und bereits existente Defizite symptomatisch zu behandeln. Heute gilt als ehrgeiziges Therapieziel, die Krankheitsaktivität (Schübe) völlig zu verhindern. Auch den Krankheitsfortschritt, also die schleichende Behinderungsprogression, will man nachhaltig verlangsamen und im Idealfall sogar stoppen.

Man fasst dieses kombinierte Therapieziel mit dem Begriff „NEDA“ (No Evidence of Disease Activity) zusammen. Darunter fallen Schubfreiheit, Behinderungsfreiheit, das Fehlen neuer bzw. sich vergrößernder Hirnläsionen und die Abwesenheit von Hirnatrophie im MRT. Die Behinderungsfreiheit wird dabei nach dem internationalen Standard EDSS (Expanded Disability Status Scale) bestimmt. Sie erfasst den Schweregrad der Behinderung bei Multiple-Sklerose-Patienten zum Zeitpunkt der Erhebung.

Dadurch soll vor allem der schleichende Übergang von einer schubförmig-remittierenden MS (RRMS) in eine sekundär-progrediente MS (SPMS) verhindert werden. Die SPMS zeichnet sich durch eine schubunabhängige Zunahme der Behinderungen aus. Der progressive MS-Verlauf stellt nach wie vor eine große therapeutische Herausforderung dar. Er wird wohl durch eine jenseits der Blut-Hirn-Schranke stattfindende Entzündung sowie eine Neurodegeneration getrieben. Da es bisher keine Medikamente gibt, welche die Blut-Hirn-Schranke effektiv überwinden, stellt die sekundär-progrediente MS nach wie vor eine große therapeutische Herausforderung dar. Falls bereits Behinderungen vorliegen, wie z. B. Spastik, Blasenstörungen etc., müssen diese konsequent Symptom-zentriert, medikamentös oder physiotherapeutisch behandelt werden.

2. Welche Therapiemöglichkeiten gibt es für Schübe und Symptome und wie unterscheiden sich die Behandlungsansätze?

MS handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung. Bestandteile des zentralen Nervensystems (in Gehirn und/oder Rückenmark) werden durch körpereigene Immunzellen angegriffen. Alle Behandlungen der MS beruhen auf immunmodulatorischen oder immunsuppressiven Therapieansätzen. Ziel ist eine verlaufsmodifizierende Behandlung, also die kontrollierte Dämpfung des Immunsystems, um den Verlauf der MS langfristig günstig zu beeinflussen. Aufgrund der Tatsache, dass die letzten Ursachen der MS noch nicht bekannt sind, ist auch eine „ursächliche“ oder „heilende“ Therapie der MS zum heutigen Zeitpunkt nicht möglich.

Es gibt zwei vorherrschende Behandlungsstrategien. Sie orientieren sich an der Bewertung des Risikos des weiteren MS Verlaufs und am Risikoprofil bzw. der Wirksamkeit der in Frage kommenden Medikamente.  Die erste Strategie ist eine sogenannte Stufentherapie. Hier wird mit einem niedrigpotenten Medikament mit relativ sicherem Risikoprofil begonnen. Wenn trotz ausreichend langer und regelmäßiger Anwendung weiterer Krankheitsaktivität nachgewiesen wird, müssen Medikamente höherer Wirkeffizienz eingesetzt werden. Die zweite Strategie ist eine frühe Eskalationstherapie. Hier wird die Behandlung mit einem Medikament höherer Wirkeffizienz schon zum Zeitpunkt der Diagnose oder früh im Krankheitsverlauf begonnen, da die MS als höhergradig gefährdend eingestuft wird. Neuere Daten aus Beobachtungsstudien lassen vermuten, dass die frühe Behandlung mit einem Medikament höherer Wirkstärke bei Patienten mit Krankheitsaktivität das Risiko des Übergangs in eine sekundäre progrediente Form der MS verringert. Unabhängig von der grundsätzlichen Behandlungsstrategie ist eine kontinuierliche Verlaufsbeobachtung der Patienten in Form von klinischen und MRT-Untersuchungen notwendig.

Die dem Arzt zur Verfügung stehenden Therapiemöglichkeiten sind mittlerweile äußerst umfassend. Sie umfassen in Deutschland aktuell 17 zugelassene Medikamente. Die meisten Therapiemöglichkeiten bestehen bei der schubförmigen MS (RRMS: schubförmig-remittierende Multiple Sklerose).

Bei progredienter MS (SPMS: sekundär progredienter Multiple Sklerose) sind die medikamentösen Therapiemöglichkeiten immer noch deutlich eingeschränkt. Eine vollständige Liste der zugelassenen Medikamente können Patienten auf bei DMSG (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft) finden.

3. Wie wird die Therapieentscheidung in der Praxis getroffen? Stellen Sie dem Patienten mehrere Optionen vor (Spritze, Tabletten)?

Therapieentscheidungen in der Praxis sollten prinzipiell, besonders jedoch bei chronischen Krankheiten wie MS, gemeinsam von Arzt und Patient im Sinne einer partnerschaftlichen Entscheidungsfindung (auch „Shared Decision Making“ genannt) getroffen werden. Bei diesem „Shared Decision Making“ arbeiten Arzt und Patient eng zusammen. Sie wägen das Für und Wider von Therapien gegeneinander ab – und treffen schließlich gemeinsam eine Entscheidung über die beste Behandlung. Hierbei müssen alle Aspekte, auch solche praktischer Natur, berücksichtigt werden. Dazu gehören Verabreichungsoptionen (Spritze oder Tablette) und die Häufigkeit der Applikation genauso wie die genaue Verlaufsbeobachtung der Therapie. Falls nach ausführlichem Gespräch unterschiedliche Meinungen zwischen Arzt und Patient bestehen, ist es vernünftig, der Entscheidung des Patienten Vorrang einzuräumen. Denn die betroffenen Patienten können ihre individuelle Lebenssituation am besten beurteilen. Dieses „Informed Choice“-Prinzip kann allerdings nur dann angewandt werden, wenn eine tatsächliche Wahlfreiheit besteht und keine schwerwiegenden Gründe dagegensprechen. Eine Therapieentscheidung, die zwar nach klinischen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten richtig getroffen wurde, jedoch vom Patienten aus emotionalen oder lebenspraktischen Gründen nicht mitgetragen werden kann, stellt eine Gefahr für das Befolgen der Therapiemaßahmen und somit für den langfristigen Therapieerfolg dar.

„Therapieentscheidungen in der Praxis sollten prinzipiell, besonders jedoch bei chronischen Krankheiten wie MS, gemeinsam von Arzt und Patient im Sinne einer partnerschaftlichen Entscheidungsfindung – auch „Shared Decision Making“ genannt – getroffen werden.“

Prof. Dr. Herbert Schreiber, Ulm

Dass das „Shared Decision Modell“ von der Mehrzahl der Patienten auch gewünscht wird, belegen Patientenbefragungen eindrücklich. So zeigte sich in einer vielbeachteten Erhebung der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK an knapp 12.800 Patienten, dass etwa 55 % der Patienten eine gemeinsame Entscheidungsfindung befürworteten, und nur 18 % ein autonomes Konzept („Ich entscheide selbst“) bzw. 23 % ein passives Entscheidungskonzept („Der Arzt hat muss es wissen, hat ja Medizin studiert“) bevorzugten. In einer Erhebung an MS Patienten stimmten sogar 79 % für eine aktive Rolle bei Therapieentscheidungen.

Wunsch und Realität klaffen allerdings oft noch weit auseinander: So gaben bei der bereits erwähnten Befragung im Rahmen des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann Stiftung und der BARMER GEK 2017 immerhin 58 % der Patienten an, von ihrem Arzt noch nie auf Therapiealternativen angesprochen worden zu sein. Zeitdruck, Kommunikationsfehler (z. B. einengender Gesprächsstil) und mangelndes ärztliches Einfühlungsvermögen gehören hier sicher zu den Ursachen. Dies ist umso tragischer, da emotionale und non-verbale Elemente in Kommunikation zwischen Arzt und Patient erfahrungsgemäß eine enorme Rolle spielen. Sie auszublenden oder gar zu missachten, gefährdet den gesamten therapeutischen Prozess. Denn entscheidend ist nicht, was der Arzt weiß, sagt und meint, sondern was der Patient versteht und aufnimmt, was bei ihm „ankommt“. 

Eine empathische und authentische Gesprächsatmosphäre ist deshalb neben dem Informationsaustausch ein wesentliches Element einer guten Arzt-Patienten-Beziehung. Ziel jeglicher Arzt-Patienten-Kommunikation muss es deshalb sein, nicht nur Kompetenz und Wissen zu vermitteln, sondern eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der die Wünsche und die Lebenssituation des Patienten integriert werden.

4. Welche Rolle spielen die Erwartungen und die Lebenssituation der Patienten dabei?

Therapieentscheidungen bei chronischen Erkrankungen wie der MS werden in der Regel für längere Zeit getroffen. Deshalb fließen hier persönliche Erwartungen und die individuelle Lebenssituation der Patienten in höherem Maße mit ein als bei Akut- oder Kurzeittherapien. Auch aus ärztlicher Sicht ist es ratsam, individuelle Präferenzen des Patienten zu berücksichtigen, da dies eine entscheidende Voraussetzung für eine gute Befolgung der Therapiemaßnahmen ist. Wichtige Aspekte aus Patientensicht sind erfahrungsgemäß eine gute Verträglichkeit der Medikation, eine möglichst große Unabhängigkeit im Alltag (z. B. durch längere Therapieintervalle und bei Reisen), ein hohes Maß an Eigenverantwortung und günstige Bedingungen rund um eine Schwangerschaft.

Auch die unkomplizierte Verabreichung der Medikamente, also die Frage, ob eine Injektion oder Tabletten geeigneter sind, spielt für viele Patienten eine wesentliche Rolle. Daher ist es ratsam, mit dem Patienten immer auch die Anwendung der Medikamente durchzusprechen, da dies für die Patienten eine wichtige Entscheidungsgrundlage für ihre Therapie darstellt. Sehr vorteilhaft ist es, wenn die Patienten auch mit einer erfahrenen MS-Nurse sprechen können. MS-Nurses können die Details der Anwendung oft kompetenter und einfühlsamer besprechen als Ärzte. Dazu gehören z. B. die Injektionstechniken und die Aufbewahrung von MS Medikamenten sowie praktische Fragen rund um die Schwangerschaft. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gerade MS-Patientinnen gerne den Rat von MS-Nurses suchen. Am Ende muss der Patient ein „gutes Gefühl“ mit der ausgewählten Therapie haben und bewusst einwilligen. Nur dies garantiert, dass der Patient die Therapiemaßnahmen auch längerfristig befolgt.

„Auch die unkomplizierte Verabreichung der Medikamente, also die Frage, ob eine Injektion oder Tabletten geeigneter sind, spielt für viele Patienten eine wesentliche Rolle.“

Prof. Dr. Herbert Schreiber, Ulm

Amy Perrin Ross, eine auf MS spezialisierte Krankenschwester vom Loyola University Medical Center in Maywood (USA), bringt es auf den Punkt, wenn sie im Fachmagazin Practical Neurology eine Lanze für eine teambezogene MS-Behandlung bricht und schreibt: „Patienten mit MS interessieren sich am meisten für ihr eigenes Krankheitsmanagement und sind entscheidend daran zu beteiligen.“